Novy - Abschied von der Marktgläubigkeit
Einmal mehr stößt die Heinrich Böll Stiftung – bekannt für ihre Fleisch- und Bodenatlanten – eine überfällige Debatte an – diesmal zur Marktgläubigkeit vieler Umweltbewegter[1]. Offensichtlich läuft etwas schief in der Art und Weise, wie Umweltbewegung, Umweltforschung und politische Parteien wie die Grünen seit Jahrzehnten versuchen, Schritte hin zu einer nachhaltigen und solidarischen Lebens- und Produktionsweise zu setzen. „Die von Menschen verursachten Emissionen von Treibhausgasen <sind> von 2000 bis 2010 stärker angestiegen als je zuvor“.[2] Die Zahl der Wirbeltiere auf unserem Planeten hat sich seit 1970 um 52 Prozent verringert.[3] Weiterhin importiert Europa, im Selbstbild immer noch Vorreiter in Sachen Umweltschutz, für seine intensive Tierproduktion alleine 35 Millionen Tonnen Soja pro Jahr, d.h. umgerechnet eine Fläche von 15 bis 17 Millionen Hektar.[4]
Das ist keine Bilanz von UmweltmusterschülerInnen. Vielfältige politische Absichtserklärungen, zähe globale Klimaverhandlungen, jahrzehntelange wissenschaftliche Forschung im Rahmen des IPCC – all dies mit dem Ergebnis, dass sich gegenwärtig negative Entwicklungen sogar verstärken.
Was kostet die Natur?
„Der Klimawandel [ist] … das größte Marktversagen in der Geschichte“, so analysiert der ehemalige britische Weltbankökonom Stern die Ursachen des Problems Klimawandel. Wenn es tatsächlich Marktversagen ist, das Klimawandel, aber auch Artensterben und Umweltverschmutzung ganz allgemein verursacht, liegt die Lösung auf der Hand: Natur ist solange wertlos, solange sie keinen Preis hat. Kosten gehören internalisiert, was durch die Schaffung von Märkten möglich wird. „Marktversagen soll durch mehr Markt und Monetarisierung korrigiert werden“ (Seite 71), denn „Natur muss angemessen in die Ökonomie integriert werden“ (Seite 73).
Ohne explizit auf Karl Polanyi zu verweisen, den Autor der epochalen Reflexion über den Ursprung unserer Industriegesellschaft, zeigen Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, wie die VerfechterInnen der “Grünen Ökonomie“ im 21. Jahrhundert noch immer der „Idee eines selbstregulierenden Marktes“[5] anhängt, als hätte es die Krise von 2008 mit ihrer Diskreditierung der unbedingten Markthörigkeit nie gegeben. So versucht Pavan Sukhdev, ehemals Finanzmanager, nun Biodiversitätsschützer, Märkte für Biodiversität zu schaffen. Die Probleme, derartiger „Ökosystemdienstleistungen“ (Seite 86), wie dem Schutz von Tigern, der Rettung von Gorillas, aber auch der Bewahrung von Almen und Moorlandschaften, einen Preis zu geben, sind vielfältig. Dementsprechend stockend entwickeln sich Biodiversitätsmärkte, während das Artensterben voranschreitet.
Carbon Rights als Ausweg?
Auf den ersten Blick eine Erfolgsgeschichte ist hingegen die Einführung eines weltweiten CO2-Marktes, der 2013 ein Volumen von 30 Milliarden US-Dollar erreicht haben soll.[6] Innerhalb der Grünen Ökonomie gilt die CO2-Bepreisung – beziehungsweise die Verschmutzungsrechte unserer Luft – mittlerweile als Königsweg. CO2-Emissionen sollen handelbar werden wie Milch und Butter. Das funktioniert, weil das vermeintlich Surreale gelungen ist, nämlich Aufforstung und Waldschutz ebenfalls in CO2-Emissionen – in diesem Fall eingesparte – zu quantifizieren. Dies gelingt z.B. durch die Bepreisung des Landes von Indigenen, die Carbon Rights zugesprochen bekommen.[7] Fluggesellschaften können ihre Flugreisen CO2-neutral anbieten, indem sie Indigenen solche Carbon Rights abkaufen. Das sind jedoch keine Landtitel, die deren Reservate schützen, sondern handelbare Finanzprodukte. Indigene Völker, deren Beitrag zu aktuellen Klimaverwerfungen denkbar gering ist, werden dieser Systemlogik folgend Teil des globalen Finanzkarussells, das dazu dienen soll, das Klima zu schützen. „Ist dieser Weg einmal beschritten, müssen sich die Gemeinschaften den Regeln des Marktes unterwerfen und ihre Lebensweise daran ausrichten. Sie verlieren damit zumindest teilweise die Kontrolle über ihr Territorium“.[8] Nicht nur im Wilden Westen wird Land gegen Alkohol und Perlen getauscht. Und im Globalen Norden können Menschen ungehindert ihr klimaschädliches Verhalten – von Flugreisen über Autofahren fortsetzen, da man es mit diesem Instrument ja „klimaneutral“ tun kann.
Grüne Ökonomie und die Dominanz der Märkte
Das Heilsversprechen der Märkte ist dabei keineswegs neu und wird immer wieder aufs Neue praktisch wie theoretisch entzaubert. Karl Polanyi hat bereits 1944 eindrucksvoll beschrieben, dass die Schaffung künstlicher Märkte Teil des Problems, nicht der Lösung ist. Polanyi zeigt, wie im 19. Jahrhundert durch politische Regulierung Arbeit, Land und Geld zu drei „fiktiven“ Waren werden und wie die Marktgläubigkeit zuerst zur Wirtschaftskrise, dann zu Faschismus und Krieg führte. Polanyis Fazit: „Wir vertreten die These, daß die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutete. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt“.[9]
Heute, über 70 Jahre nach Erscheinen von „Die Große Transformation“, ist die Grüne Ökonomie mit dabei, Umweltpolitik der Marktgläubigkeit zu opfern. In den 1970er und 1980er Jahren war Umweltschutz eine politische Aufgabe, für die demokratisch gewählte VertreterInnen und staatliche Bürokratien eine Reihe von Instrumenten einsetzten: Steuerpolitik, Wohnbau, Raumplanung. So setzten sie auf Druck einer aktiven Umweltbewegung eine Reihe von Gesetzen, Vorschriften und Verboten durch – der Ausstieg aus der Kernenergie ist in Österreich wohl das herausragende Beispiel. Marktregulierung war in der traditionellen Umweltpolitik nur eines von vielen Instrumenten. Im Neoliberalismus wird sie zur zentralen, für manche zum einzigen Instrument. 1990 wurde in den USA ein „Cap and Trade“-System etabliert, „also die Festlegung einer Emissionsobergrenze mit handelbaren Emissionszertifikaten, die allmählich verringert werden soll.“[10] Marktlösungen – so das neoliberale Credo – sind effizienter als Ge- und Verbote. Heute vertreten diese Meinung nicht mehr nur eingefleischte Neoliberale, sondern auch viele Grüne.
Das Ideal selbstregulierender Märkte entpuppt sich so zunehmend als ein expansives Moloch, dass neben sich keine anderen Regulierungsinstrumente duldet, alles seiner Logik unterordnet und daher Politik jenseits von Marktregulierung entmachtet.
Repolitisierung - aber wie?
Fatheuer/Fuhr/Unmüßig zeigen die Gefahr der Marktgläubigkeit für eine Klimapolitik, die nicht nur Marktlösungen, sondern die jeweils besten und politisch gewünschten Instrumente einsetzen will. Sie zeigen, wie die Erfolge der „Energiewende“ in Deutschland – Ausbau der Erneuerbaren - die Preise auf dem CO2-Markt senken. „Die billigen CO2-Zertifikate ermöglichen gleichzeitig den weiteren Einsatz der Kohle. In Deutschland führt das zum Energiewendeparadox: wachsender Ausbau der erneuerbaren Energien und gleichzeitiger Anstieg der CO2-Emissionen durch Kohleverbrennung.“[11] Das ist möglich, weil die Art der Emissionsreduktionen den Marktakteuren – Industrie und Finanzinstitutionen – überlassen wird. Diese seien die neuen Heroes des Klimaschutzes.
Wirksame Umweltpolitik sollte aber wohl weder durch wohlmeinende Diktatoren noch durch vorgeblich effiziente Manager, sondern durch zeitgemäße Formen demokratischer Politik im Sinne eines gemeinsamen Gestaltens und Entscheidens erfolgen. „Es ist eine ethische Frage, wie wir den verbleibenden ökologischen Raum fair und gerecht für jetzige und zukünftige Generationen verteilen, wenn gutes Leben, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen auf der Erde ein politisches Ziel bleiben soll. Und es muss ein Ziel bleiben“[12], Transformationsprozesse by design demokratisch zu gestalten. Repolitisierung bedeutet, demokratische Gestaltungsfähigkeit zurückzugewinnen, indem der gegenwärtigen konzerndominierten Globalisierung Grenzen gesetzt werden: Kein TTIP, dafür wirksame Finanzverkehrskontrollen wären die ersten Schritte. Es heißt aber auch, Abschied zu nehmen von der Illusion, mit Konsens allein sei Veränderung möglich. Schon Sommer/Welzer erinnern in ihrem Buch „Transformationsdesign“[13] daran, dass Privilegien nur selten freiwillig abgegeben werden. Die Umverteilung von Einkommen und Vermögen ist nicht Selbstzweck. Sie dient dazu, Machtkonzentration einzuschränken, damit öffentliche Meinung weniger käuflich wird. Durch fossile Industrie reich gewordene Milliardäre wie die Brüder Charles und David Koch (Koch Industries, USA) stecken Millionenbeträge in Lobbying und Pressure Groups, um Gesetzgebung im Bereich Klimaschutz, Umweltschutz, Gesundheit, Arbeitnehmerrechte, Einwanderung und Gleichstellung in ihrem Sinne zu beeinflussen.[14] Es braucht daher eine Beschränkung des Einflusses der (Super)Reichen und der Konzerne auf die Politik, aber auch neue, radikalere Formen der Einmischung und neue Bündnisse von unten.[15]
Umweltgerechtigkeit und sozialer Zusammenhalt
Deshalb greifen Fatheuer/Fuhr/Unmüßig am Schluss Gerechtigkeits- und Machtfragen auf.[16] „Die Kosten der Energiewende, die derzeit größtenteils auf den Strompreis aufgeschlagen werden, fordern von den ärmsten 30 Prozent ein überproportional hohes Opfer im Vergleich zu den oberen 70 Prozent der Einkommen“.[17] Derartige Verteilungswirkungen widersprechen den Prinzipien von Umweltgerechtigkeit und untergraben die Glaubwürdigkeit von Klimapolitik, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Gerade in Zeiten zunehmender sozialer Spaltungen ist es notwendig, auch durch die Umwelt- und Klimapolitik den sozialen Zusammenhalt zu stärken. So sollten langfristig sinnvolle Investitionen in Umwelt- und Klimaschutz (ebenso wie die Kosten zur Bewältigung der Integration von Flüchtlingen) vorrangig durch die großen GewinnerInnen der neoliberalen Politik finanziert werden – und das ist weniger als ein Prozent der Bevölkerung, dessen Vermögenswerte explodierten.
- Fatheuer, Thomas, Fuhr, Lili, & Unmüßig, Barbara (2015). Kritik der Grünen Ökonomie. München: Oekom.
- Polanyi, Karl (1978<1944>). The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt: Suhrkamp.
- Sommer, Bernd, & Welzer, Harald (2014). Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne (Vol. 1). München: oekom.
[1] Ich greife im Folgenden die Überlegungen der drei AutorInnen auf und zitiere ihr Buch (mit Seitenzahl) ausführlich. Darüber hinaus verbinde ich die Ausführungen in „Kritik der Grünen Ökonomie“ mit den Überlegungen des ungarisch-österreichischen Sozioökonoms Karl Polanyi, dem Kritiker der Marktgesellschaft und Autors von „The Great Transformation“.
[2] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 24
[3] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 35, siehe auch
[4] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 41
[5] Polanyi, 1978, Seite 19
[6] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 74
[7] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 79-81
[8] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 181
[9] Polanyi, 1978, Seite 19-20
[10] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 138
[11] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 141
[12] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 169
[13] Sommer/Welzer 2014, Seite 221f
[14] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 169
[14] Sommer/Welzer 2014, Seite 31
[15] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 169
[15] Sommer/Welzer 2014, Seite 175
[16] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 171
[17] Fatheuer/Fuhr/Unmüßig, Seite 157
Andreas Novy ist Vorstand des Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt.