Anders wirtschaften ist möglich
Von Christiane Seufferlein
Im Sommer 2011 wurde eine kleine Gemeinde zu Grabe getragen. In allen Auslagen des Ortskerns von Losenstein klebten Zettel: „Danke für ihre jahrelange Treue, aber wir müssen unser Geschäft leider schließen.“ Die Fenster der Raika und des Lebensmittelgeschäfts sind mit dunklem Papier beklebt, genauso wie die der Fleischhauerei. Sogar das Eisstandl vom Dorfcafe – zu. Vier Tage später ist der Spuk vorbei. Das verwaiste Dorf erwacht wieder zum Leben. Die Verhüllungsaktion war für Bernd Fischer der Anfang seines persönlichen Abenteuers. Der gelernte Ergotherapeut – seit 2011 der neue Nahversorger des Ortes – trat damit an, die Welt ein Stück zu verändern und beweist von seinem kleinen Geschäft aus, dass „anderes Wirtschaften“ möglich ist.
„Als wir vor acht Jahren hier her gezogen sind, gab es noch eine Post, zwei Kleidergeschäfte, eine Apotheke, die Fleischhauererei, die Trafik und die Frau Jarolimek mit ihrem kleinen Lebensmittelgeschäft, in das wir einkaufen gingen. Dann verschwand die Apotheke, das Bekleidungsgeschäft sperrte zu und es gingen Gerüchte um, dass auch der Lebensmittelladen nach der Pensionierung der Besitzerin nicht weitergeführt werden würde“, erinnert sich Bernd Fischer.
Wie in vielen anderen Regionen auch, entstand zu jener Zeit gerade ein Einkaufszentrum außerhalb von Losenstein, in das auch ein großer Billa einziehen sollte. Es hing nur mehr an der Umwidmung des Bauplatzes durch den Gemeinderat. Bernd Fischer begann damals zu überlegen: „Wie kann man den Menschen zeigen, was sie verlieren würden, wenn das Dorf stirbt?“ So entstand die Schaufenster- Verhüllungsaktion. „Man muss die Menschen berühren, nur so kann man was verändern“, war sich Fischer sicher. Nach den vier Tagen, die für viele Diskussionen und Aufmerksamkeit gesorgt hatten, passierte erst mal gar nichts. Es fand sich kein Nachfolger für Frau Jarolimek und an der Billa- und Umwidmungsfront war es ebenfalls ruhig.
Foto: CHRISTIANE SEUFFERLEIN
Da traf Bernd Fischer seine Entscheidung – er würde der neue Kaufmann werden. „ Mir wurde klar, dass ich nicht nur einen wichtigen Kreislauf im Ort in Gang halten kann. Bei meiner Arbeit als Ergotherapeut in einer Psychiatrischen Reha-Einrichtung hatte ich jeden Tag mit Menschen zu tun, die am System förmlich zerbrochen sind. Es gibt keinen Bereich mehr, in dem der Druck nicht wächst. Nur wer Leistung zu bieten hat, bekommt Leistungen zurück. Da fällt aber ein großer Teil der Gesellschaft unter den Tisch, die alten Menschen, Kranke oder Kinder. Das wollte ich verändern.“
Weltveränderung auf den zweiten Blick
Auf den ersten Blick wirkt das kleine Nah&Frisch Geschäft jedoch nicht so, als ob Weltveränderung darin passieren würde. Es gibt die üblichen Regale, vollgestellt mit Softdrinks, Tiernahrung, Babywindeln und allem, was das Sortiment seines Lieferanten Pfeiffer hergibt. Schon kurz nach dem Eingang dämmert es dem Besucher in Losenstein, dass in diesem Geschäft etwas anders läuft. In einem schmalen Durchgang stehen Produkte, in alten Kästen liebevoll präsentiert, denen man die Handarbeit ansieht. Marmeladen mit handgeschriebenen Etiketten, selbstgemachtes Kürbisgemüse im Pfandglas und handgeschnitzte Kochlöffel. Bernd Fischer hat über 30 LieferantInnen aus Losenstein und der Umgebung, die er oft erst vom Wert der eigenen Produkte überzeugen musste: „Die Preisfindung bei manchen Produkten war ein hartes Stück Arbeit, weil sich viele Hersteller und Herstellerinnen schlicht unter Wert verkaufen. Ich möchte den Wert ihres Handwerks aber würdigen und darum war das ein Feilschen um jeden Cent, aber nicht nach unten sondern nach oben.“ schmunzelt Fischer und ergänzt: „Aber die Preise dürften passen, weil wir von dem Regal viel mehr Aufstriche verkaufen als von allen handelsüblichen Marmeladen zusammen.“
Um die nächste Ecke, vorbei am Getränkeregal, wo sich zwischen Darbo und Spitz auch Biomarken wie Hasenfit-Saft schmuggeln, zweigt ein Raum ab, der so gar nicht ins Konzept der Gewinnmaximierung von Handelsketten passen will. Für Bernd Fischer ist er aber das Herz seines Geschäfts. In einer Ecke steht das „Gib und Nimm Regal“ und ein großer Bücherschrank zur freien Entnahme. Hier können die LosensteinerInnen sich gratis bedienen und selbst wieder dafür sorgen, dass das Regal gut gefüllt bleibt. Gemütliche Sessel laden zum Sitzen und Reden ein und der Kaffee, den sich die KundInnen selbst in der kleinen Kaffeeküche machen, ist auch umsonst. Die anderen Produkte in seinem „Nachhaltigkeitszimmer“ hat Bernd Fischer mit viel Sorgfalt ausgesucht und zusammengetragen. Es finden sich neben alten Getreidesorten in Bioqualität auch biologische Putzmittel und Büroartikel.
Plastiksackerl sind Fehlanzeige
Wer nun aufmerksamer durchs Geschäft wandert, findet immer mehr Zeugnisse eines anderen Wirtschaftens. Zettel weisen darauf hin, dass es hier keine neuen Plastiksackerl gibt, aber gerne Second Hand Sackerl unter dem Motto „Nutzen statt Besitzen“ entgegengenommen werden. Am Kühlregal für Milchprodukte klebt eine A4 Seite, auf der Bernd Fischer seine KundInnen bittet, gemeinsam mit ihm der Lebensmittelverschwendung zu begegnen. Also nicht mehr zu kaufen, als man braucht und auch Ware mitzunehmen, die kurz vorm Ablaufdatum ist und darum reduziert wurde. Beim Obst sucht man Äpfel aus Patagonien oder Erdbeeren im Winter vergeblich, aber auch hier bietet der Kaufmann eine kurze schriftliche Erklärung über Produktionsbedingungen in den oft sehr armen Ländern, Landraub und Ressourcenverschwendung.
Foto: CHRISTIANE SEUFFERLEIN
Bioerdäpfel liegen lose in einer großen Kiste und Bernd Fischer fällt eine Geschichte dazu ein, wie er mitgeholfen hat, 10.000 Kilo Erdäpfel davor zu bewahren, vernichtet zu werden: „Einer meiner Lieferanten, ein Biolandwirt aus Schiedlberg, erzählte mir, dass er auf 10 Tonnen Erdäpfeln sitzen bleibt, weil die Ernte so gut war, dass der Großhandel den Preis auf 15 Cent pro Kilo gedrückt hat und er es sich nicht einmal mehr leisten kann, die Erdäpfel zu sortieren und zu liefern. Für mich war das wirklich schockierend, weil weder der Kunde noch ich als Kaufmann von diesen Praktiken etwas mitbekommen.“ In nur wenigen Tagen stand dann die „Kartoffelhilfe“.
„Kein erhobener Zeigefinger“
Fischer zahlte dem Bauern 70 Cent pro Kilo, verzichtete auf den Großteil seiner eigenen Gewinnspanne und für jedes Kilo verkaufter Erdäpfel legte dann der Biolandwirt ein Kilo für eine Sozialorganisation gratis drauf. Gleichzeitig informierte er seine Kundschaft sachlich über die Situation der Bauern und die Praktiken des Großhandels. Der Plan ging auf und nicht nur der Bauer war zufrieden, auch viele seiner Kunden haben durch die Aktion zum ersten Mal zu Bio-Ware gegriffen und gemerkt, dass solche Erdäpfel doch anders und besser schmecken. „Ich will nicht mit erhobenem Zeigefinger von Bio predigen, sondern einfach informieren und zum selbstständigen Denken animieren. Die Menschen da abzuholen, wo sie gerade stehen, ist sehr wichtig. Darum habe ich auch kein Reformhaus oder Bioladen eröffnet. Ich will als Nahversorger für alle da sein. Wenn ich durch ein großes und Bio-Sortiment die alte Dame von nebenan abschrecke, die ihre gewohnten Produkte nicht mehr findet, habe ich gar nichts erreicht. Schaffe ich es aber, dass sie ab und zu unser Biobrot mitnimmt und sich über geschenkte Biotomaten freut, die mir ein befreundetes Paar vorbeigebracht hat, weil sie viel zu viel davon hatten, dann habe ich etwas verändert.“
Bernd Fischer scheint konsequent all das zu tun, was Handelsketten, den Schweiß auf die Stirn treibt. Er verschenkt was andere verkaufen, stellt Weihnachtsschokolade erst im Dezember ins Regal, weil seine Kundschaft sich das in einer Umfrage gewünscht hat. Er handelt kleine ProduzentInnen beim Verkaufspreis nach oben statt nach unten, weil er möchte, dass sie überleben. Stellt sich die Frage: Was bleibt ihm selbst übrig? „Es geht sich immer alles aus und das reicht mir und meiner Familie.“
Enthusiasmus „ansteckend“
Soviel Enthusiasmus steckt an und genau das möchte Bernd Fischer sein – ansteckend. Seit er sein Geschäft übernommen hat, segeln auch die Fleischerei und die Trafik unter neuen Fahnen. Beide Familienbetriebe standen kurz vor dem Aus, als sich ein ehemaliger Lehrling des Betriebs als Übernehmer der Metzgerei anbot und eine Losensteinerin ihren Traum vom eigenen Geschäft nicht in einer größeren Stadt, sondern daheim verwirklichte und die Trafik vorm Zusperren bewahrte. Dass Fischer mit seinen DorfplatzkollegInnen nicht in Konkurrenz steht, sondern man sich gegenseitig unterstützt versteht sich von selbst.
Für eine Gemeinde mit gerade einmal 1600 EinwohnerInnen pulsiert der Marktplatz. Ein Musikgeschäft, Bernd Fischers Lebensmittelladen, ein Blumengeschäft, eine Massagepraxis, eine Fleischhauerei, eine Trafik, eine Bank, eine Bäckerei, einen ehrenamtlich geführten Weltladen, ein Cafe, einen Frisör, eine Bibliothek und drei Gasthäuser sind eine beachtlich bunte Mischung und das war noch nicht alles, wenn es nach dem Kaufmann geht: „Ich hab schon wieder so ein Projekt im Kopf. Da geht es um noch regionalere Lebensmittel und weniger Verpackung.“
Und der Billa? Ja, der wurde am Ende doch gebaut, draußen auf der grünen Wiese und Ja, Bernd Fischer spürt den Druck des Handelsriesens und trotzdem ist er zuversichtlich. „Mein Umsatz ist klar zurückgegangen nach der Billa-Eröffnung. Nichts desto trotz schmeiße ich nicht gleich alles hin und werde weiter kämpfen. Ich bin mir sicher bestehen zu können. Auch habe ich sehr treue Kunden, die sehr viel Solidarität zeigen. Ich bin sogar zuversichtlich langfristig das bessere Konzept zu haben und mit meiner Struktur viel krisenfester zu sein.“ Bernd Fischer beweist, dass es auch ohne Turbo-Kapitalismus geht, dass Geschenke Freude und Freunde machen und dass ein Wirtschaftssystem, das auf das Wohl aller Menschen ausgerichtet ist, für jeden so viel abwirft, dass es genügt.
FAKTEN
Was ist Solidarische Ökonomie
Solidarische Ökonomie (SÖ) bezeichnet Formen des Wirtschaftens, die menschliche Bedürfnisse auf der Basis freiwilliger Kooperation, Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe befriedigen. Das Prinzip der Solidarität steht dabei im Gegensatz zur Orientierung an Konkurrenz, zynischer Eigenverantwortung und Gewinnmaximierung in kapitalistischen Marktwirtschaften. Solidarität in der Wirtschaft bedeutet, sich an den Bedürfnissen der KooperationspartnerInnen zu orientieren. Damit emanzipieren sich die AkteurInnen von der durch den Markt vorgegebenen Handlungslogik und Ergebnissen. Solidarität kann dabei sowohl auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit (z.B. gemeinschaftliche Selbsthilfe) als auch auf Umverteilung beruhen. Der Begriff der Solidarität verweist ferner auf die Freiwilligkeit von Kooperation und gegenseitiger Hilfe. Damit beinhaltet die Idee der SÖ den Anspruch von Selbstorganisation und Demokratie. Ebenso beinhaltet die Idee der Solidarität auch zukünftige Generationen und damit die Erhaltung der Natur.
Text: Sven Giegold
Quelle: „ABC der Alternativen“, VSA-Verlag
Linktipps
Video: Viva a Alternativa!
Solidarische Ökonomie in Deutschland und Brasilien:
www.youtube.com/watch?v=PbGwdNLHh1U
Andreas Exner und Brigitte Kratzwald:
Solidarische Ökonomie & Commons, mandelbaum kritik & utopie
Infos zum Thema mit vielen Links und Literaturtipps:
www.solidarische-oekonomie.de
Ulrich Brand / Bettina Lösch / Benjamin Opratko / Stefan Thimmel (Hrsg.):
ABC der Alternativen 2.0 - Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft
VSA-Verlag 2012