Angelika Hager: Schneewittchen-Fieber
Die Töchtergeneration der Emanzipationsbewegung hat sichtlich die Nase voll von Doppelbelastung und Dauererschöpfung ihrer Mütter. Warum dies so ist und warum der Feminismus auf die Schnauze gefallen ist, analysiert die Journalistin und Autorin Angelika Hager in ihrem jüngsten Buch:
Wir alle quälten uns im Deutschunterricht durch "Nora oder ein Puppenheim" von Henrik Ibsen. Wie progressiv und sprengsatzreich dieses Stück über zertrümmerte Lebenslügen und einen weiblichen Befreiungskampf zu seiner Entstehungszeit empfunden worden sein muss, kann man nur ahnen. In jedem Fall empfand ich die Fragestellungen, die es aufwarf, im Deutschunterricht der siebenten Klasse als hoffnungslos anachronistisch. Heute nicht mehr. Und zwar gar nicht mehr. Wir erinnern uns: Nora verlässt Ende des 19. Jahrhunderts in Norwegen Mann und Kinder, weil sie nicht mehr ein hübscher "Singvogel" sein will, und um ?mich selbst und das rechte Verhältnis zu meiner Umgebung zu finden?.
Ihr Mann Helmer ist fassungslos, wie so oft bei verlassenen Gatten (das erzählen auch alle Scheidungsanwältinnen) trifft ihn diese radikale Entscheidung aus heiterem Himmel.
"So kannst du dich doch nicht über die heiligsten Pflichten hinwegsetzen?", beschwört er sie.
Nora: "Ich habe andere Pflichten."
Helmer, jetzt völlig von der Spur: "Welche können das sein?"
Nora: "Die Pflicht gegen mich selbst."
Heute fällt diese Kategorie von Pflicht unter den sattsam strapazierten Begriff Selbstverwirklichung. Ein schreckliches Wort. In etwa so hässlich wie der Begriff Beziehungsarbeit. Es klingt nach schlecht gelüfteten Seminarräumen, Klangschalen, Wohlfühltees in abgegriffenen Thermoskannen und Menschen in bequemer Freizeitkleidung, die sehr oft Sätze wie "?Ich versteh? dich total gut?" oder "Und wie geht?s dir damit?" sagen.
Doch die Pflicht "gegen sich selbst" ist heute unter jungen Frauen eine zunehmend vernachlässigbare Größe oder besser: Die Pflicht gegen sich selbst wird zunehmend bei jungen Frauen mit Familienglück und häuslicher Idylle gleichgesetzt ...
Angelika Hager, auch bekannt als Polly Adler, identifiziert in ihrer Polemik einen längst verschwunden geglaubten Frauentypus: Das Retro-Weibchen. Jede zweite junge Frau kann sich heute vorstellen, zugunsten eines geordneten Familienlebens auf ihre Karriere zu verzichten. Sie stellen ihr Idylle-Konzept vor berufliche Unabhängigkeit und Freiheit, halten ihren Männern den Rücken frei und sich selbst im Zaum. Satirisch dargestellt ist dies auf dem Coverfoto des Buches aus der Serie „Life once removed“ der US-Konzeptkünstlerin Suzanne Heintz. „Schneewittchen-Fieber“ untersucht die Ursachen dieses neuen Phänomens, das in nachhaltigen Bobo-Kreisen genauso um sich greift wie im konservativen Lager und im linksliberalen Establishment.

HAGER, Angelika
Schneewittchen-Fieber
192 Seiten, Hardcover, € 22,90
1. Auflage 2014, Kremayr & Scheriau
ISBN: 978-3-218-00928-7
(auch als e-book erhältlich)
„DER FRUST BEGINNT BEIM JOB“
Auszug aus einem Interview mit Angelika Hager:
Frau Hager, nie wurde so viel über die Gleichstellung diskutiert wie heute. Ihre Diagnose lautet: Die Gegenwart hat Schneewittchenfieber. Was meinen Sie damit?
Der Diskurs dreht sich im Kreis. Wir verhandeln heute die gleichen Themen wie vor zehn Jahren: Väterzeit, Lohnschere, Quote oder genderkorrekte Sprache. Faktisch herrscht Stillstand. Da entwickeln junge Frauen, schon ermüdet, jene Krankheit, die ich Schneewittchenfieber nenne: Sie verkriechen sich in Idyllen und kochen Obst ein. Statt den sieben Zwergen, die im Bergwerk schuften, ein märchenhaftes Heim zu schaffen, sorgen sie bei ihrem Mann für diese Liebling-wie-war-dein-Tag?-Gemütlichkeit. Viele jüngere Frauen sind Töchter emanzipierter Mütter. Aber die sind in der Doppelbelastungsmühle ihrer Generation oft graugesichtig geworden, sie standen unter Dauerstrom. Das hatte wohl eine abschreckende Wirkung auf die Jüngeren.
Man hört wieder Sätze wie „Ich habe es nicht nötig zu arbeiten, mein Mann verdient genug“. Die neue Häuslichkeit ist offenbar ein Distinktionsmerkmal der oberen Schichten.
Das glaube ich nicht. Auch in einkommens- und bildungsschwachen Milieus sagen sich Frauen: „Bevor ich in einem mies bezahlten Job herumsitze, bekomme ich lieber ein paar Kinder und nehme das Betreuungsgeld.“ Aus dem Marketing kommt ja der Begriff Familienmanagerin. Unterprivilegierte Frauen fliegen nach einer Trennung am schnellsten aus der sozialen Spur. Aber auch etablierte Macchiato-Mütter sind finanziell abhängig von ihren Gefährten. Sie werden traurig aus ihren schicken Blusen schauen, wenn die Hipster-Vatis die hormonelle Krise kriegen und mit der 25-jährigen Yogalehrerin durchbrennen. Dann müssen die Mamis sich mit Mitte 40 in einen brutalen Arbeitsmarkt reinboxen.
Was müsste man tun, um den Backlash aufzuhalten? Die Quote ist selbst im Feminismus umstritten.
Auch für mich hat eine gesetzliche Quotenregelung etwas von einem Artenschutzprogramm. Aber wir werden nicht drum herumkommen. Natürlich bringt das die oft zitierte Hofer-Kassiererin zunächst keinen Zentimeter weiter. Die braucht eine flexible Kinderbetreuung, die nicht ein Drittel ihres Gehalts auffrisst und Alternativen während der elendslangen Schulferien anbietet. Ein Partner, der nicht von Kastrationsängsten geplagt wird, wenn er Fischstäbchen in die Pfanne wirft, würde auch helfen.
Ihre Tochter ist Anfang 20. Findet sie denn eine bessere Welt vor als die Generation 40 plus?
Die meisten jüngeren Männer sind wenigstens mit einem etwas anderen Frauenbild groß geworden. Sie sind nicht mehr die verhätschelten Muttersöhnchen, mit denen wir Ältere uns herumschlagen mussten. Kein Vergnügen ist aber der Arbeitsmarkt. In den 90ern konnten wir uns da noch austoben, gerade auch die Jungen. Da kam man noch schnell an richtiges Geld. Heute kenne ich viele im Alter meiner Tochter, die trotz Einserzeugnissen froh sind, wenn sie einen 1.200-Euro-Job kriegen. Das frustriert. Und Frustrationen sind die beste Voraussetzung für Schneewittchenfieber.
Das Gespräch führte Katja Kullmann, in: "Der Freitag", Ausgabe 37/14.