Atzmüller/Knecht - Zusammenhänge von Bildungs- und Sozialpolitik
Die internationalen PISA-Untersuchungen der letzten Jahre haben – bei aller Problematik dieser Erhebungen –einmal mehr deutlich gemacht, wie sehr der Bildungserfolg in Österreich vom sozio-ökonomischen und Bildungsstatus der Eltern, von der Region (Stadt/Land-Gefälle) und vom Migrationshintergrund abhängig ist. Der internationale Vergleich zeigt: Schulsysteme, die Kinder früh (etwa nach der 4. Schulstufe) verschiedenwertigen Schultypen (Hauptschule/Neue Mittelschule, Gymnasium) zuordnen, können soziale Ungleichheiten kaum reduzieren und tragen sogar zu ihrer Verfestigung und Reproduktion bei. Da das österreichische Bildungssystem nur mit einer Verfassungsmehrheit (erforderliche 2/3 Mehrheit im Parlament) reformiert werden kann, konnten bislang insbesondere konservative Kräfte grundlegende Reformen blockieren. Das Bildungssystem trägt daher noch Züge des 19. Jahrhunderts. Die Schule ist weiterhin vorwiegend als Halbtagesschule organisiert, was der bäuerlichen Einbindung der Kinder in die Landwirtschaft entsprach, und es ist weiterhin die Mitarbeit der Eltern systematisch gefordert, wie es im (klein-)bürgerlichen Familienideal der im Haushalt allzeit verfügbaren Mutter vorgesehen war. Auch heute hängen die Schulerfolge der Kinder davon ab, ob ihre Eltern Hilfestellungen leisten können.
Die frühe Aufteilung der Kinder verstärkt auch die Selektionsmechanismen an den weiteren Übergängen im Bildungssystem. Im Prozess der Bildungsexpansion hat sich daher der Anteil von Kindern aus Arbeiterhaushalten, die Maturaniveau erreichen, relativ betrachtet, kaum erhöht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus der höchsten Bildungsschicht eine zur Matura führende Schule besuchen, ist 17 bis 18 mal höher als für Kinder, deren Eltern nur über einen Pflichtschulabschluss verfügen (Nationaler Bildungsbericht 2012). Tatsächlich verbessert haben sich aber die Bildungschancen der Mädchen/Frauen. Gegenwärtig erreichen etwa 47% der jungen Frauen eines Jahrgangs Maturaniveau, während der Anteil bei den jungen Männern bei etwa 33% liegt. Letzteres hat aber auch damit zu tun, dass das System der Lehrausbildung eher auf männliche Berufsbilder ausgerichtet ist. Auch bei den Studienanfängern überwiegt der Anteil der jungen Frauen, es wirken aber in der Studienwahl geschlechtsspezifische Mechanismen, sodass technische Studien weiterhin eher männlich, sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche eher weiblich sind. Je höher der akademische Bildungsabschluss, desto mehr verringert sich der Bildungsvorteil der Frauen und kehrt sich schließlich auf den höchsten Ebenen (Doktorat, Universitätsprofessur) weiter zugunsten der Männer um.
Bildung und Sozialpolitik
Die Zusammenhänge von Bildung und sozialer Ungleichheit zeigen, dass Bildungs- und Sozialpolitik nicht getrennt betrachtet werden können. Dies reflektiert sich auch in aktuellen Debatten zum Umbau des Wohlfahrtsstaates, die sich auf den Ansatz des social investment beziehen. Soziales Investment will den Wohlfahrtsstaat gegenüber neoliberalen Angriffen re-legitimieren, indem v.a. jene Aktivitäten gestärkt werden sollen, die zur Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Bildung spielt hier eine zentrale Rolle, sollen doch gleichzeitig soziale Anliegen mit der wettbewerbsrelevanten Förderung des Humankapitals versöhnt werden. Daher rückt der Ausbau der (Aus-)bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen ins Zentrum sozialpolitischer Aktivitäten.
Die mit Sozialem Investment verbundenen bildungspolitischen Entwicklungen können in folgenden drei Dimensionen sichtbar gemacht werden. Erstens werden bisher freiwillige Bildungsangebote verpflichtend gemacht, so dass die Schulpflicht zu einer nach vorne und hinten verlängerten Bildungspflicht wird. Zweitens wird die Einführung dieser Maßnahmen durch diagnostische Prozesse gestützt, die der Planung individueller Hilfemaßnahmen dienen und die Erhebung von Daten über die langfristige Entwicklung des Humankapitals der Bevölkerung ermöglichen sollen. Drittens verfestigen die Maßnahmen einen Dualismus, der dazu führt, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten stärker verpflichtet werden als andere – mögen sie auch rechtlich so ausgestattet sein, dass sie als nicht diskriminierend gelten.
Verlängerung nach vorne: Diese Tendenzen zeigen sich bspw. beim Ausbau frühpädagogischer Angebote in den Kinderkrippen und Kindergärten. Die Frühförderung gilt aus SI-Perspektive als effektiv und kostengünstig; da sie dazu beiträgt, spätere Kosten für Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Armutsbekämpfung zu minimieren. Das emanzipatorische Potenzial der Frühförderung läuft damit Gefahr ins Gegenteil verkehrt zu werden. Der Bildungsgedanke wird verbunden mit vermehrter sozialer Kontrolle.
Seit 2010 besteht auch in Österreich die Pflicht, fünfjährige Kinder im Jahr vor Schulbeginn mindestens halbtägig in einen Kindergarten zu schicken. Die Einführung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahres ist geplant. Hier ist aber eine Opt-out-Regelung angedacht, bei der auf Antrag von der Verpflichtung abgesehen werden kann. Dafür soll ein (diagnostisches) Screening in Form eines „Bildungskompass“ eingeführt werden: Bei dreieinhalb Jährigen ist geplant, vor Beginn des Pflichtkindergartens die Begabungen, Stärken, Schwächen“ und „Talente des Kindes“ zu erheben erden. Während der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen Mittelschichtfamilien ermöglichen soll, Unterbrechungen der Erwerbsbiographien kurz zu halten, schwingt mit Blick auf Familien aus niedrigeren sozialen Schichten immer auch die Vorstellung mit, diese (und nicht das Bildungssystem) seien nicht fähig und willens ihren Kinder ausreichend Bildungschancen zu eröffnen und müssten daher in die Pflicht genommen werden.
Verlängerung nach hinten: Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Übergang von der Pflichtschule in Ausbildung und Arbeitsmarkt feststellen. Die Probleme im Übergang ergeben sich, weil in Österreich immer noch 40% eines Jahrgangs eine Lehrausbildung absolvieren wollen. Gleichzeitig kam es in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer erheblichen Reduktion der Ausbildungsplätze, sodass etwa in den Ballungsräumen viele Jugendliche (oft mit Migrationshintergrund) schwer eine Lehrstelle finden und damit von dauerhafter Arbeitslosigkeit bedroht sind. Die Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten in den letzten Jahrzehnten werden aber als Verlust niedrigqualifizierter Arbeitsplätze interpretiert (und nicht als verstärkter Wettbewerbsdruck durch höherqualifizierte ArbeitnehmerInnen nach unten). Die Arbeitslosenquote von PflichtschulabsolventInnen, lag 2015 bei mehr als 26%, während bspw. Personen mit einem Lehrabschluss ein Arbeitslosigkeitsrisiko von 7,8% aufwiesen.
Vor diesem Hintergrund geraten Jugendliche, die nach der Pflichtschule nicht (sofort) in das Ausbildungssystem eintreten, in den Fokus der Politik, obwohl die Rate der „frühen Schulabgänger eigentlich abnimmt (zwischen 2001 und 2013 von 9,6% auf 7,1%). Schon vor dem Verlassen der Schule sollen v.a. schwächere Schüler durch das Jugendcoaching, das als diagnostischer Prozess der Stärken- und Schwächenfeststellung gedacht ist, in das Hilfesystem gelotst werden.
Zur Bewältigung der Lehrstellenproblematik wurde 2008 die sogenannte Ausbildungsgarantie beschlossen, durch die sichergestellt ist, dass Jugendliche eine Lehre in einer überbetrieblichen Lehrwerkstätte absolvieren können, wenn sie am Lehrstellenmarkt nicht unterkommen. Diese Maßnahme wurde international viel beachtet und ist im Kontext des Systems der dualen Ausbildung sehr bemerkenswert. Da die Lehrausbildung bislang v.a. in der Verantwortung der Unternehmen belassen war, entstanden nämlich immer wieder Qualitätsprobleme. Durch die Ausbildungsgarantie wurde die Lehre de facto durch einen öffentlichen Zweig ergänzt.
Ab Herbst 2016 soll die Ausbildungsgarantie in eine Ausbildungspflicht für 15- bis 18-Jährige umgewandelt werden, die auch das Jugendcoaching als Pflichtberatung umfassen wird und deren Nichtbefolgung sanktioniert werden kann. Diese Entwicklung zeigt, dass in der gegenwärtigen politischen Konstellation und einem im Verfassungsrang stehenden Bildungssystem, die Ungleichheitseffekte des österreichischen Bildungssystems weiterhin nicht angegangen werden. Vielmehr wird versucht, diese über einen zunehmend obrigkeitsstaatlichen Zugriff auf jene Jugendliche zu lösen, die sich in einem Bildungspfad befinden (Hauptschule, arbeitsmarktpolitsche Maßnahmen, ev. Lehre), der sie am unteren Ende der sozialen Hierarchien einordnen wird. Selbst wenn es nicht intendiert ist, wird diesen Jugendlichen signalisiert, dass sie defizitär sind, dass sie nicht reif sind, dass sie diszipliniert werden müssen. Welche Auswirkungen diese Kränkungen auf das Gesellschaftsbild von Jugendlichen haben, wird dabei tunlichst ausgeblendet.
Schlussfolgerung: Soziales Investment oder Sozialpolitik
Soziales Investment bietet zwar eine argumentative Grundlage zu mehr bildungspolitischem Engagement der Politik, schränkt aber gleichzeitig die Bedeutung der Bildungsprozesse mehr und mehr auf ihre wirtschaftliche Bedeutung (Humankapital) ein: Bildung wird in erster Linie unter den Gesichtspunkten der Rentabilität und Beschäftigungsfähigkeit gesehen. Das bedeutet jedoch, dass Arbeitsmarktprobleme v.a. über eine Anpassung des Humankapitals der Arbeitskräfte gelöst und so individualisiert werden. Öffentliche Investitionen zur Verbesserung der Beschäftigungsnachfrage aus sozialökologischer Perspektive oder durch Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung können nicht durchgesetzt werden. Dies verbindet sich mit der Kehrseite von SI: Sogenannte unproduktive Ausgaben (wie etwa Pensionen) und Umverteilungsmaßnahmen werden mehr und mehr gegen ersteres ausgespielt und damit zur Kürzungsmasse. Internationale Vergleiche zeigen aber, dass durch Bildungspolitik alleine eine Reduktion von Ungleichheit nicht erreicht werden kann und insbesondere die Mittelschichten die SI-Angebote nützen. Direkte Maßnahmen der sozialstaatlichen Umverteilung wären aber wirkungsvoller und würden ihrerseits – durch die Reduzierung von Armut in der Elterngeneration – zu weniger Bildungsungleichheit in der Kindergeneration führen.
Roland Atzmüller ist Assistenzprofessor an der Universität Linz mit Arbeitsschwerpunkt Veränderungen des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpolitik.
Alban Knecht ist Projektmitarbeiter an der Abteilung Theoretische Soziologie und Sozialforschung der Universität Linz sowie Lehrbeauftragter an der Hochschule München und der FH Campus Wien.