Die Grünen - eine Friedenspartei?
Zumindest lässt sich aber eine Hauptkontroverse ausmachen, welche die gesamte Geschichte der Friedens- und Gewalttheorie durchzieht: Soll sich Friedenspolitik auf das Thema Frieden im engeren Sinne – d.h. als Gegensatz zu Krieg – konzentrieren? Oder soll sie einen weiten Friedensbegriff anlegen, der Frieden nicht (nur) als das Gegenteil von Krieg, sondern auch von Gewalt und Ungerechtigkeit begreift?
In Anlehnung an ein Modell von Oliver Richmond (2008) möchte ich vier Denkschulen oder „Paradigmen“ der Friedenspolitik unterscheiden:

Wilfried Graf, Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Richmond (2008: 99-117)
1) Frieden durch Machtgleichgewicht
Die erste Denkschule versteht sich als „realistisch“ und hat einen klaren Fokus auf militärische Sicherheit. Sie stützt sich auf den Staat mit dem Ziel, direkte physische Gewalt zu beenden und die Staatsordnung wiederherzustellen bzw. aufzubauen. Zentrale Denkfigur ist die Verteidigung oder Herstellung von Machtgleichgewicht zwischen Staaten mittels Militär und/oder diplomatischem Konfliktmanagement. Ein Musterbeispiel für dieses Paradigma 1 ist die Außenpolitik der USA. Aber auch autoritäre Staaten oder bewaffnete Befreiungsbewegungen stehen in der Tradition dieses „realistischen“ Paradigmas.
2) Frieden durch Gewaltfreiheit und Abbau struktureller Gewalt
Die zweite Denkschule (1970er und 80er Jahre) stellt die Kritik am vermeintlichen „Realismus“ der Sicherheitspolitik dar. Hierbei geht es um Frieden durch Gewaltfreiheit, strukturellen Frieden durch Abbau struktureller Gewalt und Konfliktlösung durch Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Diese Denkschule betont, dass auch zivilgesellschaftliche Akteure eine wichtige Rolle für die Konfliktlösung spielen.
3) Frieden durch Recht
Die dritte Denkschule (1990er Jahre), der Ansatz des sogenannten liberalen Friedens, setzt auf Frieden durch Recht bzw. auf die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, Aufbau internationaler Institutionen, Durchsetzung der Demokratie und der Menschenrechte mittels multidimensionaler Peacebuilding-Missionen – bis hin zu sogenannten humanitären Militärinterventionen.
Diese Denkschule ist eine inzwischen in liberalen Kreisen im Westen, im UN-System und in der EU einflussreiche Antwort auf die neuen, v. a. ethnopolitisch geprägten Konflikte, die nach dem Kalten Krieg entstanden sind. Frieden soll von außen – etwa UN-Missionen – durch einen Mix aus belohnenden und bestrafenden Strategien implementiert werden. Der Fokus liegt dabei auf liberal-demokratischen Reformprozessen wie der freien Marktwirtschaft, good governance, der Rechtstaatlichkeit, der Demokratisierung, der Förderung der Menschenrechte und der allgemeinen ökonomischen Entwicklung.
In diesem Sinn wird hier auch die Responsibility to Protect betont, was „humanitäre Interventionen“ legitimiert, die letztlich auf militärischen Machteinsatz angewiesen bleiben. Es gibt in dieser Denkschule eine große Spannbreite – vom neoliberalen Friedensdiktat bis hin zu sinnvollen zivilgesellschaftlichen Initiativen.
4) Frieden durch Pluralismus
Die vierte Denkschule setzt auf Frieden durch Pluralismus, interkulturellen Frieden durch Anerkennung kollektiver Identitäten und die Emanzipation benachteiligter Gruppen und Minderheiten. Diese Denkschule fokussiert v. a. auf die Kritik des liberalen Friedenskonzepts, aber auch auf die Kritik der universalistischen, idealistischen und strukturalistischen Konzepte der Gewaltfreiheit der 1970er und 1980er Jahre mit starkem Bezug auf die postkolonialen feministischen Bewegungen. Die Kritik bleibt aber meist im theoretischen Diskurs stecken, ein ausgereifter Praxisbezug fehlt vielfach.
Das von Richmond erarbeitete Schema erlaubt, die Geschichte des grünen Friedensdenkens zu reflektieren und die grüne Friedenspolitik ideologisch (oder besser: ideenpolitisch) zu verorten.
a) Die Friedensbewegung im Kalten Krieg war eine der zivilgesellschaftlichen Säulen, aus denen die Grünen als Partei entstanden sind. Gewaltfreiheit ist deshalb auch einer der Grundwerte der Grünen. Daneben spielten auch andere Werte eine entscheidende Rolle: Neutralität, Menschenrechte, soziale Sicherheit. Aber die zugrunde liegende Denkschule in den Anfangsjahren der Grünen war eindeutig die zweite Denkschule („Frieden durch Gewaltfreiheit“).
b) Seit den 1990er Jahren hat das menschenrechtliche Engagement in der Zivilgesellschaft und bei den Grünen an Bedeutung gewonnen. Das Ende des Kalten Krieges, der EU-Beitritt und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind jene historischen Kontexte, in denen die Gewaltfrage neu gestellt wurde. Humanitäre Interventionen galten nun unter bestimmten Umständen als legitime Formen der Gewaltausübung. In den grünen Parteien wurden dazu heftige Kontroversen ausgetragen, die von breiter gesellschaftlicher Bedeutung waren. Einige Grüne unterstützten die einseitige Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens, dann Kroatiens. Manche unterstützten 1999 auch die NATO-Intervention im Kosovo. Und der Mainstream des grünen Friedensdenkens wanderte langsam aber sicher in Richtung der dritten Denkschule, der des liberalen Friedens. In der Außen- und Friedenspolitik der europäischen Grünen ist diese Orientierung heute dominant: Daniel Cohn-Bendit, Noël Mamère und Rebecca Harms sind keine PazifistInnen im Sinne der zweiten Denkschule.
Zweifelsohne existiert bei den Grünen aber auch heute mehr oder weniger starke Kritik am „realistischen“ oder liberalen Frieden im Sinne der zweiten, aber auch der vierten Denkschule. Deshalb ist meine Antwort auf die Frage, ob die Grünen eine Friedenspartei sind, ein JEIN: Es hängt davon ab, welcher Friede gemeint ist. Und plakativ könnte man und frau vielleicht sagen: Der Grundwert der Gewaltfreiheit wurde geschwächt zugunsten des Grundwerts der Menschenrechte – anstatt das Spannungsfeld zwischen den beiden Grundwerten auf komplexe und kreative Weise zusammen zu denken.
Spätestens seit dem "11. September" und dem darauffolgenden "Krieg gegen den Terror" sowie gegenwärtig angesichts der kriegerischen Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten und in der Ukraine stellen sich die Fragen von Frieden, Gewaltfreiheit und Neutralität für die Grünen wiederum neu. Wir leben heute in einer Übergangsphase großer Komplexität, Unübersichtlichkeit und Ungewissheit, in der klassische „Diagnosen“ und „Prognosen“ kaum mehr möglich sind.
In einer solchen Lage reicht keine der vier Denkschulen aus, um wirklichen Frieden zu schaffen. Die Grünen sind aber derzeit vielleicht die einzige Partei, die ein umfassenderes Friedensdenken entwickeln könnte. Dabei ginge es nicht nur um die Aufhebung der Spannung zwischen ethischen Grundwerten wie Menschenrechten und Gewaltfreiheit, sondern um eine Integration der legitimen Problemstellungen und Teilwahrheiten aller vier Denkschulen auf Basis der Theorie und Praxis einer „umfassenden Friedenspolitik“.
Morin, Edgar (1999): Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik. Wien: Promedia. (Originalausgabe: Terre Patrie. Paris 1993)
Richmond, Oliver (2008): Peace in International Relations, London: Routledge.
Wilfried Graf ist ehemaliger Obmensch der Grünen Bildungswerkstatt und Friedensforscher.