Natter - Sozialstaat und Ehrenamt. Ein komplementäres Verhältnis
Dr. Andreas Khol hat 1999 mit seinem Manifest „Durchbruch zur Bürgergesellschaft“ in Österreichs Parteienlandschaft und quer über deren
Trennlinien hinweg für Aufsehen gesorgt; auch in den eigenen Reihen. Kohls Konzept der Bürgergesellschaft adaptierte einen angelsächsischen Kommunitarismus und verpasste ihm einen österreichischen Trachtenjanker. Selbst sollte er sein, der Mann aber auch die Frau. Ein scheinbar vernünftiger „dritter Weg“ oder auch „Weg der Mitte“ wurde dabei angeboten. Nachdem der Realsozialismus sein wohlverdientes Ende fand und sein historischer Gegenspieler, der moderne Kapitalismus, sich weiterhin nur von einer Krise zur nächsten kämpfte, schien diese Synthese gerade recht zu kommen.
Ab durch die Mitte
Die Dialektik der „Mitte“ also: Was da so nach Ratio und Räson klingt, strahlt Sicherheit und Standhaftigkeit aus. Wenn links und rechts Sackgassen sind, dann eben ab durch die vermeintlich sichere Mitte. Die Brücke, die hier zwischen marktwirtschaftlichen Interessen und sozialen Bedürfnissen gebaut werden soll, ist der Versuch, auf das zu reagieren, was Thatcher und Reagan in den 80er Jahren T.I.N.A. nannten und global installierten. „There Is No Alternative“ war das große Aufräumen nach der Ölkrise und der hohen Arbeitslosigkeit in den 70er Jahren. Privatisierung und weniger Staat anstelle John Maynard Keynes. Und ganze Arbeit wurde geleistet. Noch immer wird die vorherrschende Programmatik des neoliberalen Kapitalismus von politischen EntscheidungsträgerInnen meist als alternativloses System im wahrsten Sinne des Wortes „verkauft“. Vielerorts sind die (Staats)Kassen leer und fast zwanzig Jahre nach ihrer „Erfindung“ macht Khols Bürgergesellschaft, was Khol vorgesehen hatte. Sie springt dort ein, wo der Staat nicht mehr kann oder nicht mehr will. Bildung, Gesundheit, und Soziales sind mit finanziellen Kürzungen konfrontiert, während der Staat sich zurückzieht: „Die Antwort ist eine neue Aufgabenteilung mit dem Staat: Selbstverantwortliche BürgerInnen nehmen alleine oder mit anderen ihr Schicksal selbst in die Hand und gestalten die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen. Die Politik schafft durch einen geordneten Rückzug des Staates die dafür notwendigen Freiheiten und Freiräume, die von den aktiven BürgerInnen wahrgenommen werden. Neben die – weiterhin notwendige – verstaatlichte Solidarität tritt damit erneut die private Solidarität, das private Engagement, die „Eigeninitiative”. Einsparungen im sozialen Bereich sind dabei kein Zufall, Khol sieht hier kein zentrales Anliegen des Staates. „[Die] ursprünglichen Aufgaben des Staats [sind] Recht, Ordnung und Sicherheit”. 1
Was hier propagiert wird, ist nicht eine Alternative zur defizitären Lage einer immer ungleicheren Gesellschaft, es ist schlicht der Rückzug der Politik aus ihrer Verantwortung und die Delegierung ihrer Aufgaben an jene, die diese ehrenamtlich, also unentgeltlich, verrichten. Es ist nicht die Reaktion auf TINA, es ist ihre Fortführung. Dieser staatliche Rückzug ist die Auslagerung einer kostenintensiven Arbeit, die darüber hinaus gerne nach tradierten Mustern ablaufen soll: „Letztlich zielt die konservative Interpretation der Gemeinsinn-Debatte auf die Restauration von Kernfamilie und DienstbotInnengesellschaft sowie auf eine weitere Demontage des Sozialstaats ab und nicht auf die Umverteilung von sozialer Verantwortung zwischen den Geschlechtern und ein neues Verhältnis von gesellschaftlicher Solidarität, in dem die Gleichwertigkeit der Geschlechter mitgedacht ist.“2 Solidarität und Ehrenamt sind ohne Zweifel wichtige Stützen einer jeden Demokratie. Anstatt jedoch budgetäre Defizite im Sozialwesen zu beleuchten und deren Ursachen zu hinterfragen, wird ersatzweise Freiwilligenarbeit beansprucht. Der so wichtige Einsatz der HelferInnen und ihr Engagement wird somit missbraucht.
Flüchtlingskrise und
Sonderrichtlinie
Aktuelles Beispiel hierfür ist selbstverständlich der phlegmatische Umgang der österreichischen Regierung mit den hunderttausenden Transitflüchtlingen, die seit 2015 an Österreichs Grenzen und Bahnhöfen ankommen. Apathisch, wie schockgefroren stand sie als vollkommen überforderte Akteurin neben sich und der „Krise“ und beobachtete diese ungläubig. Sich ihrer Zuständigkeit entziehend – in diesem Land ist für die Betreuung von Flüchtlingen das Innenministerium verantwortlich – blickte sie auf ihr beeindruckendes Surrogat, das als Notbehelf um Unterstützung gebeten wurde. NGOs und Privatpersonen nahmen sich in einem beispiellosen solidarischen Kraftakt der von der Regierung ignorierten Aufgaben an und stemmten schier Unmögliches mit Spenden und einer gehörigen Portion Zivilcourage.
Dem nicht genug, sorgt das kürzlich formulierte Vorhaben von Innenministerin Mikl-Leitner, alle Gelder, welche für die Betreuung der Flüchtlinge an die jeweiligen NGOs gespendet wurden, einzufordern, für Empörung. Von „Bösartigkeit“, „Kulturbruch“, „Griff in die Tasche der SpenderInnen“ und „Zechprellerei“ ist die Rede. Begründung dieser Maßnahme ist indes eine Sonderrichtlinie, nach der „grundsätzlich nur jene Kosten förderbar sind, die nicht durch Zuwendungen Dritter (insbesondere Spenden) abgedeckt sind“. Der Geschäftsführer des Fundraising Verband Austria, Günther Lutschinger, weiß über diese Sonderregelung natürlich Bescheid, stellt jedoch ihre Rechtskonformität in Frage: Natürlich hätten die NGOs die Sonderrichtlinie und den darin fixierten Spendenabzug gekannt – aber der sei im Fall der Flüchtlingshilfe völlig unangebracht. Schließlich seien Flüchtlingshilfe und deren Finanzierung Staatsaufgabe – „aber der hat da versagt und die NGOs gebeten zu helfen. Und die sind dann für den Staat in Vorlage getreten.“ Kurzum: Der Staat habe seine Aufgaben nur aus-
gelagert. „Das ist Missbrauch des Spenden-
gedankens. Genauso gut könnten die Spender ihren Beitrag gleich ans Innenministerium überweisen.“
Almosen im Namen der Austerität
Das Schema einer Almosengesellschaft zeichnet sich ab. Khols Bürgergesellschaft stärkt nur jene, die auf Grund ihrer abgesicherten Position innerhalb einer Gemeinschaft diese Tätigkeiten auch im Stande sind auszuführen; wenn sie denn wollen. Kranke, arme oder alte Menschen verfügen häufig nicht über diese Option. Eine weitere Entscheidungshoheit liegt und bleibt also bei wohlhabenderen Personen. Derartige Solidarität führt nicht zu einer gerechteren Gesellschaft, im Gegenteil, sie konserviert ein christlich-„soziales“ Weltbild, in dem benachteiligte Menschen zu Almosenempfängern degradiert werden und vom Willen und der Nächstenliebe einer ökonomischen Elite abhängig gemacht werden – während Staat und Politik sich im Namen der Austerität ihrer Verantwortung entziehen.
1 Kohl, 1999, S. 97 Khol, Andreas (1999) Durchbruch zur Bürgergesellschaft. Ein Manifest, Wien
2 Jung, 1995 Jung, Därthe (1995) Gemeinschaft und Geschlechterdemokratie; in: Fechter, M. (Hg) Mut zur Politik Und politischen
Verantwortung ,Frankfurt/Main
Tobias Natter hat Internationale Entwicklung studiert und lebt als freier Journalist in Wien.