Plass - Mehr Markt bitte! Aber richtig.
In den kommenden Jahrzehnten steht die Menschheit vor einer gigantischen Aufgabe. Es muss gelingen, den Klimawandel einzudämmen und den existenzbedrohenden Raubbau an vielen unserer Lebensgrundlagen zu beenden.
Ein gutes, sozial und ökologisch nachhaltiges Leben aller Menschen auf diesem Planeten kann nur durch eine gerechtere Verteilung des globalen Wohlstands sowie mit einem Respektieren der dauerhaft existierenden ökologischen Grenzen gelingen. Das stellt viele Facetten unseres derzeitigen Lebensstils, unserer Wirtschaftsweise und unseres Konsumverhaltens ganz grundlegend in Frage.
Sind Marktmechanismen geeignete Instrumente, um diese Transformation in eine nachhaltige Zukunft zu fördern und zu beschleunigen? Nein, wenn man ein sehr traditionelles, kapitalistisches Marktverständnis hat. Durchaus ja, wenn man klassische marktwirtschaftliche Prinzipien wirklich ernst nimmt und mit zwei grundlegend neuen Spielregeln des 21. Jahrhunderts kombiniert!
Märkte sind Werkzeuge
Versuchen wir einmal, das »Phänomen Markt« entspannt zu betrachten! Märkte sind weder gottähnliche, wahrheitsstiftende Instanzen, denen sich Politik und Gesellschaft willenlos zu unterwerfen hätten. Noch sind sie des Teufels. Märkte sind von Menschen geschaffene und gestaltbare Werkzeuge. Richtig angewandt können sie segensreiche Wirkung entfalten. Wenn sie in die falschen Hände geraten bzw. nicht funktionieren, kann das lebensgefährlich enden.
In einigen, für das Gemeinwohl ganz wesentlichen Bereichen versagen freie Märkte. Deshalb benötigt eine ökosoziale Marktwirtschaft strenge Regeln, die demokratisch verhandelt, politisch ausgestaltet und staatlich überwacht werden müssen. Dieser Erkenntnis verdanken wir das Entstehen des modernen Sozialstaates und einer effektiven Umweltgesetzgebung. Auch das mittlerweile sehr stark ausgeprägte Wettbewerbsrecht ist unerlässlich, weil wir gelernt haben, dass Märkte, auf denen allein das »Recht des Stärkeren« gilt, für die Allgemeinheit suboptimale Ergebnisse erzeugen.
Da Märkte soziale Konstrukte sind und sich ihr Funktionieren bzw. ihr Versagen im Laufe der Zeit ändern, müssen diese Regeln immer wieder neu angepasst werden. Und in naher Zukunft werden ganz grundlegende Änderungen notwendig sein.
Neue Regeln
Jahrtausende lang konnte die Wirtschaft in einer praktisch unbegrenzt ausbeutbaren Umwelt fast ungehindert wachsen. Die exzessive Inanspruchnahme und Zerstörung der Natur hatte keinen Preis – und wenn, dann war dieser bestenfalls von den Besitzverhältnissen und Abbaukosten der vom Menschen benötigten Rohstoffe bestimmt.
Die Relation zwischen Angebot und Nachfrage, die für Güter auf klassischen Märkten einen offensichtlich der »Wahrheit« entsprechenden Preis erzeugt, war lange geeignet, das Wirtschaftsleben zu organisieren. Gab es bei einem Produkt Engpässe, stiegen die Preise und die Verbraucher reagierten mit Sparsamkeit. Gleichzeitig wurden die Erzeuger durch die plötzliche Aussicht auf hohe Gewinne angespornt, das Angebot zu erhöhen und die Versorgung wieder zu stabilisieren.
Jetzt, wo wir an die viel zitierten »Grenzen des Wachstums« stoßen und in vielen Bereichen ein immer knapper werdendes und aus fundamentalen Ursachen gar nicht mehr vermehrbares Angebot eine rasant steigende Nachfrage nicht mehr befriedigen kann, wäre es fatal, allein diesem Mechanismus die Marktgestaltung zu überlassen.
Im Kleinen haben wir dies bereits verstanden: Dass man beispielswiese die Jagd auf die wenigen noch in der Wildnis Afrikas lebenden Löwen nicht dem Markt überlassen darf, weil sonst der Abschuss des letzten Tieres eine reine Preisfrage wäre und wohl der finanzkräftigste Großwildjäger den Zuschlag für die endgültige Ausrottung dieser Spezies bekäme, ist jedem klar. Die Einrichtung von Naturreservaten, in denen die Löwenjagd absolut verboten ist, war die logische und von jedem vernünftigen Menschen akzeptierte Konsequenz.
Umfassende Kostenwahrheit
Dies führt uns zur ersten fundamental neue Spielregel eines nachhaltigen Marktes: Es muss umfassende Kostenwahrheit herrschen! Das bedeutet, dass jede wirtschaftliche Aktivität nicht nur ihre unmittelbar anfallenden Kosten zu tragen hat, sondern dass ihr auch alle externen, also bisher von anderen getragenen Kosten zugerechnet werden müssen. Der Preis jedes Produktes muss demnach alle durch seine Produktion und seinen Konsum verursachten Kollateralschäden kompensieren.
In vielen Fällen kann dies dadurch geschehen, dass einfach die Wiedergutmachung aufgetretener Schäden zur Gänze von den Verursachern finanziert wird. Beispielsweise würde eine flächendeckende LKW-Maut der Tatsache Rechnung tragen, dass die Abnützung des Straßennetzes hauptsächlich durch den Schwerverkehr bedingt ist, und die externen Kosten des LKW-Verkehrs, die bislang von den SteuerzahlerInnen getragen werden mussten, beim Verursacher internalisieren. Dass sich die politisch mächtige LKW-Lobby bislang erfolgreich gegen solche Bestrebungen zur Wehr gesetzt hat, ist einer der Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaft, die in diesem Fall jedoch wenig mit Marktwirtschaft zu tun hat, sondern durch die freche Inanspruchnahme einer indirekten und unsichtbaren Förderung der öffentlichen Hand eher planwirtschaftliche Züge trägt.
In anderen Fällen wird es jedoch unmöglich sein, auch mit noch so viel Geld die aufgetretenen Schäden zu kompensieren. Nimmt man das Prinzip der Kostenwahrheit wirklich ernst, können nicht erneuerbare Ressourcen – wie zum Beispiel Erdöl –, deren Zerstörung nicht wieder gut gemacht werden kann, nur einen logischen Preis haben: Er ist unendlich hoch! So wie der letzte Löwe müsste eigentlich auch das noch vorhandene Erdöl unverkäuflich sein, bzw. ist es kaum zu rechtfertigen, dass unsere Generation diesen Rohstoff hemmungslos ausbeutet und unsere Kinder und Kindeskinder nur mehr leere Bohrlöcher vorfinden. Im Sinne der Generationengerechtigkeit wäre eine Inanspruchnahme dieser Ressource theoretisch nur dann zulässig, wenn durch den Preis, der dafür bezahlt wird, auch die technischen Kapazitäten für die immerwährende Herstellung erneuerbarer Energien desselben Ausmaßes finanziert würden. Dies würde natürlich die Verbrennung von Erdöl mit einem Schlag vollkommen unwirtschaftlich machen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass bei ehrlicher Betrachtung eine nicht-nachhaltige Wirtschaftsweise eigentlich als Diebstahl an kommenden Generationen interpretiert werden muss. Und auf Diebstahl reagiert eine zivilisierte Gesellschaft zumindest mit einer logischen Konsequenz: mit der Enteignung des Diebes. Das Prinzip, dass Geld in Zukunft nicht mehr alles kaufen darf – auch wenn Menschen bereit wären, für immer knapper werdende Güter immer höhere Preise zu bezahlen –, ist ein wesentliches Element einer derartigen Zivilisierung des Marktes und dessen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit.
Neudefinition des Begriffes »Eigentum«
Noch viel wesentlicher ist die Neubewertung der Eigentumsfrage – die zweite fundamental neue Spielregel – bei jenen Gütern, die gar keinen rechtmäßigen Eigentümer haben. Ob zum Beispiel Ackerland von Einzelpersonen besessen werden kann, wird in manchen Kulturen mit gutem Grund in Frage gestellt, da doch der allererste Besitzer eines Stückes Boden dieses nur durch eine mehr oder weniger gewaltsame »Besetzung«, also quasi durch Diebstahl an einer wohl ebenso zu einer solchen Landnahme berechtigten Gemeinschaft erworben haben kann.
Während die Besitzverhältnisse am Land de facto weitgehend geklärt sind, ist das beim Meer bei weitem nicht so. Die hohe See bzw. die internationalen Gewässer unterliegen keiner Souveränität. Das Gebiet und seine Ressourcen sind »gemeinsames Erbe der Menschheit«. Ähnliches muss wohl auch für die Atmosphäre und deren Unversehrtheit gelten: Da sie niemandem gehört, gehört sie allen – allen derzeit und in Zukunft auf dieser Erde lebenden Menschen, jeweils zu gleichen Teilen!
Dies schließt natürlich auch das Recht mit ein, die Atmosphäre zu verschmutzen bzw. diese mit CO2-Emissionen zu belasten. Anders formuliert: Welches Recht hat der Durchschnitts-Österreicher, die Emission von annähernd genauso vielen Treibhausgasen zu verursachen wie 300 BewohnerInnen von Mali oder Burundi? Findet da nicht ein Eingriff ins rechtmäßige Eigentum anderer Menschen statt, welches in einem funktionierenden Markt eigentlich geschützt sein sollte?
Afrikanische Bauern werden kaum die Möglichkeit haben, sich gegen diese »Enteignung« zur Wehr zu setzen, aber innerhalb der funktionierenden Rechtsstaaten Europas könnte man diese Eigentumsfrage neu verhandeln. Nimmt man das 2-Grad-Ziel, auf das sich die Staatengemeinschaft bei der UN-Klimakonferenz in Paris geeinigt hat, wirklich ernst, muss relativ rasch klar sein, was das bedeutet: Pro Erdenbürger/in würden gerade noch jährliche Emissionen von 2 bis 3 Tonnen CO2 zulässig sein, also etwa ein Fünftel dessen, was hierzulande pro Kopf auf unser Konto geht. Selbst wenn man sich moderate Ziele setzt und innerhalb des kommenden Jahrzehnts eine CO2-Reduktion um sagen wir einmal 20 Prozent anpeilt, käme dies einer einschneidenden Verknappung der bisherigen Emissionsmöglichkeiten gleich.
Wenn der Markt dabei helfen soll, diese Reduktion zu organisieren, müsste auch innerhalb Österreichs zuerst die Eigentumsfrage geklärt werden, also wer denn eigentlich das Recht besitzt, CO2 in die Atmosphäre zu emittieren? Ist es legitim, dass eine einkommensstarke Akademikerin mit Einfamilienhaus, Zweitwagen und Karibikurlaub ein Vielfaches an Treibhausgas-Emissionen verursacht wie ein Mindestrentner, der an der Armutsschwelle lebt? Ist es legitim, dass sie damit eigentlich dessen Rechte unbezahlt in Anspruch nimmt? Ein funktionierender Markt, der allen MarktteilnehmerInnen prinzipiell die gleichen Chancen einräumt, müsste das Eigentum des Mindestrentners eigentlich schützen!
Dies könnte dadurch geschehen, dass jedem und jeder Österreicher/in zu Beginn eines Jahres vom Staat dieselben persönlichen Verschmutzungsrechte zugeteilt werden. Diese würden auf einem persönlichen CO2-Konto verbucht und könnten bis zu einem gewissen Maße zwischen den BürgerInnen handelbar sein. Bei jedem Einkauf müsste nicht nur mit Geld, sondern auch mit den entsprechenden Verschmutzungsrechten bezahlt werden. Dies würde dem Mindestrentner plötzlich eine starke Position am Markt verschaffen, die er mit seinem wenigen Geld nie erreichen könnte, da die oben erwähnte Akademikerin von ihm Verschmutzungsrechte mit Geld zukaufen müsste, um ihren Lebensstil halbwegs fortsetzen zu können.
Würde der Staat dann mit der Zeit die zu jedem Jahresbeginn ausgegebene Gesamtmenge an Verschmutzungsrechten langsam reduzieren, wären drei Dinge erreicht: Durch staatliche Reglementierung würden die ökologischen Grenzen des Planeten zunehmend eingehalten. Innerhalb dieser Grenzen könnte der Markt zwischen gleichberechtigten und mit maximaler Freiheit konsumierenden Marktteilnehmerinnen die Verteilung des knappen Gutes CO2 organisieren. Und zusätzlich würde sozialer Ausgleich über eine Art Grundeinkommen verwirklicht – jedoch nicht vom Staat in Form von Geld ausbezahlt, sondern von diesem in Form handelbarer Verschmutzungsrechte garantiert, was monetäre Geldflüsse von Reich in Richtung Arm ohne staatliche Umverteilung in Bewegung setzen würde.
Es wäre verlockend, diese Idee eines vollkommen neuen Zusammenspiels staatlicher Reglementierung und marktwirtschaftlicher Mechanismen – diese Weiterentwicklung des »Werkzeuges Markt« – im Detail durchzudenken und auszuarbeiten. Dass vieles davon noch vollkommen utopisch klingt und ein derartiges System wohl nur in gesamteuropäischem Gleichklang organisiert werden könnte, ist klar. Das sollte uns jedoch nicht entmutigen: Dass wir heute von Lissabon bis Helsinki mit demselben Geld bezahlen und jedes Geschäft auf der ganzen Welt dieselben bunten Plastikkarten als Zahlungsmittel akzeptiert, konnte sich vor wenigen Jahrzehnten auch noch kaum jemand vorstellen. Märkte sind gestaltbar, wenn unsere Gesellschaft es will!
Volker Plass ist Bundessprecher der Grünen Wirtschaft.